Yun von Yun

Vor undenklichen Zeiten, als die Welt noch jung war, beherrschte das Volk der damals namenlosen Inseln den Kampf mit der Dala und den Todeszirkel der wirbelnden Klingen bereits in fast derselben Vollkommenheit wie heute, freilich ohne Magie, denn diese Kunst war noch unbekannt. Die Menschen lebten zerstreut und ohne Herrscher, nährten sich mühsam vom Fischfang, und ihre Klingen fertigten sie aus den nachgiebigen Stoffen der Natur.

Damals war die junge Welt noch kraftlos und unerfahren, und schreckliche Mächte nutzten ihre Schwäche, um Verderben unter den Kindern der Welt zu säen. Eine dieser Mächte trug den Namen Rakshaska. Der Dämon hatte hundert Arme und hundert Köpfe, aus denen er Gift und Pesthauch atmete, kein Pfeil und keine Schneide vermochten seine blutrote Schuppenhaut zu durchdringen.

Auf hundert Füßen wandelte Rakshaska über Meer und Land, und wohin er trat, fielen die Menschen sterbend zu Boden, ihre Körper halb verwest und übersät von Geschwüren. Auch den Felsenstrand der namenlosen Insel erreichte er, und in Panik flohen Männer, Frauen und Kinder vor dem Dämon in die unfruchtbaren Berge. Wer nicht rechtzeitig die Küste verließ, starb einen qualvollen Tod, und nicht einmal die Tiere wollten seinen Leichnam anrühren.

Zu dieser Zeit tat sich ein junger Krieger unter seinem Volk hervor, sein Name war Yun. Er wusste die Dalas wohl zu führen, war aufrichtig und tapfer, und es schmerzte ihn, als er die Menschen in Flucht und Tod sah. „Ich fürchte die Pest nicht und würde mich dem Dämon wohl stellen“, sprach er zu sich selbst, „allein was könnten meine Dalas gegen ihn ausrichten?“ Mutig durchstreifte Yun vernichteten Ansiedlungen, um sich ein Bild von seinem Feind zu machen, und wohin er kam, gab es kein Leben mehr, weder bei Mensch noch Tier. Und da er sich auf einen Felsblock nahe der Küste setzte und mit seiner Schwäche haderte, siehe, näherte sich eine Katze.

Es war eine ein junges Tier, struppig und abgemagert und von einer schwer zu bestimmenden Farbe. „So hast du also die Ankunft des Dämons überlebt“, sprach Yun sie freundlich an, denn er war froh, ein lebendes Wesen zu sehen. Die Katze schlich herbei und setzte vor ihm nieder. Und Yun sah, dass sie Augen hatte von der schimmernden Goldfarbe des Sonnenuntergangs, des ruhigen Meeres, wenn sich strahlendes Licht auf den Wellen bricht. Niemals zuvor hatte er eine Farbe von solcher Schönheit, solcher Größe gesehen. Und ihn überkam ein Gefühl, das Entsetzen nicht unähnlich war.

Die Katze erhob sich und lief einige Schritte auf die Berge zu, dann wandte sie den Kopf, hob eine Pfote und winkte Yun, ihr zu nachzufolgen. Mit klopfendem Herzen folgte der junge Krieger dem Tier. Auf verschlungenen Pfaden führte ihn die Katze ins Gebirge hinauf, wobei sie sich wieder und wieder nach ihm umblickte und ihm mit ihrer Pfote winkte.

Nach einem Aufstieg, der bis zum Einbruch der Nacht dauerte, tat sich der Mund einer Höhle vor Yun auf. Hier blieb die Katze stehen und blickte ihn an aus ihren Goldaugen, und Yun verstand, dass er nun allein weiter gehen musste. Behutsam setzte er seine Schritte in die Dunkelheit. Die Finsternis der Höhle war nicht vollkommen, sondern Muster aus schimmerndem Blau glitten über die Steinwände, wie Licht, das vom spiegelnden Wasser zurückgeworfen wird. Yun zitterte; er fürchtete zwar keinen Feind, doch die Wunder erschütterten sein Herz.

Tief im Inneren der Höhle entdeckte er die Quelle des blauen Scheins: Wasser von der Farbe des Sommerhimmels sprudelte aus der Erde und bildete einen leuchtenden Teich. Alle Unruhe fiel von Yun ab. Er beugte sich nieder und berührte das Wasser, und es schien ihm, als lege sich eine tröstende Hand auf seine Schulter. Da entledigte er sich seiner Kleider und Waffen und watete in das Wasser, das ihn umschloss wie die Umarmung einer Mutter. Und er ließ sich ganz von dem blauen Wasser empfangen, er schöpfte es und trank davon. Und eine Kraft erfüllte ihn, wie er sie nie zuvor gekannt.

Als er die Höhle verließ, war die Katze fort. Der Himmel hatte sich mit tiefrotem Schein überzogen, und Gestank nach fauligem Fleisch lag in der Luft. Yun wusste, dass der Dämon Rakshaska nicht weit sein konnte. Ein wilder Mut trieb ihn, sich zum Kampf zu stellen. Er wünschte sich, dass ihn die Kraft des Windes zu dem Gegner trage – da fanden seine Füße von sich aus in windschnellem Lauf den Weg vom Berg herab.

Am Strand wartete Rakshaska, abscheulich anzusehen und jedem Sinn eine Qual. Sobald er Yun erblickte, stürzte er sich auf ihn und spie eine Wolke von Gifthauch aus. Doch Yun wünschte sich, dass das Gift seinen Körper nicht erreichte, und ein Schild aus fester Luft schloss sich um ihn.

In diesem Augenblick erkannte Yun, dass das schimmernde Wasser ihn befähigt hatte, den schweren Kampf gegen den Dämon zu bestehen. Er wusste nicht, wie es zuging, doch dieses Wissen allein, dass er die Menschen der Insel retten konnte, erfüllte ihn mit wilder Freude. Rasch wie der Sturm umkreiste er den Dämon, er hieb mit flammender Dala auf seine Schuppen ein, die unter der Macht des Feuers zerschmolzen, er rief Blitze aus dem Himmel herab und schleuderte Felsen gegen Rakshaska. Er selbst jedoch war geschützt vor dem giftigen Atem. Und langsam, wie sich der Mond am Himmel weiter bewegt, zermürbte Yun die Kraft des Dämons, bis Rakshaska entkräftet vor ihm niederstürzte. Da sprang er herbei und trennte ihm den Kopf ab.

Erschöpft und besudelt mit stinkendem Blut, wandte Yun sich ab. Sein Geist konnte noch nicht fassen, was geschehen war, er glaubte zu träumen.

Aber als er den Blick hob, saß vor ihm am Meeresufer die Katze auf einem Felsblock. Ihre goldenen Augen leuchteten, und er sah, dass sie einen Schatten warf, gewaltig wie ein Berg oder eine ganze Welt. Zitternd sank er vor ihr in den Sand und neigte den Kopf.

„Herrin, der Dämon ist tot“, sagte er.

„Steh auf, Yun“, erwiderte die Katze. „Du selbst hast ihn niedergestreckt und bist würdig, dass man vor dir auf die Knie sinkt.“

Doch Yun schüttelte den Kopf, neigte sich nur noch tiefer herab und berührte den Boden mit der Stirn. „Meine Kraft reichte nicht aus, um vor Rakshaskas Macht zu bestehen. Ihr habt mich zu der Höhle geführt, deren Wasser magische Kräfte verleiht. Niemals hätte ich sonst den Kampf bestehen können. Ich bin nur ein sterblicher Mensch, der keine Verehrung verdient.“

Da lächelte die Katze. „Du bist nicht nur tapfer, sondern auch weise, junger Krieger. Daher habe ich dich erwählt. So wisse also, wer ich bin: Ich bin Miku, die das Leben erschafft und über das Wachsen und Blühen wacht. Ich bin zu dir gekommen in einer Gestalt, die deine Augen ertragen können, und ich gab dir von meinem Blut zu trinken, um dir die Kraft zu geben, die du brauchtest, damit das Leben auf dieser Insel weiter bestehen kann.“

„Aber Herrin“, sagte Yun voller Erstaunen, „wenn Ihr diese Macht besitzt, weshalb habt Ihr den Dämon denn nicht selbst vernichtet?“

„Ich erschaffe das Leben“, erwiderte die Gottheit in Gestalt der Katze, „doch ich bringe niemals den Tod. Ich kann gegen nichts Lebendes die Hand erheben, auch nicht gegen einen Dämon. Mein Blut ist, es gibt Leben und Stärke, doch wozu seine Kraft verwendet wird, vermag ich nicht zu bestimmen. Nur euch, meinen Kindern, ist es gegeben, diese Kraft einzusetzen, sei es um Leben oder um Tod zu geben.“

Und Yun verstand und senkte in tiefer Demut den Kopf.

„Diese Inseln“, sagt die Göttin, „sollen deinen Namen tragen als Erinnerung an deine Tapferkeit und deine Weisheit. Und da du keine Verehrung wünschst, sollst du über die Menschen der Inseln wachen und sie schützen als ihr Vater und Freund. Dies ist die Heimat des Lebens, dies ist der Ort, wo das Blut der Mutter aus den Bergen fließt. Bleibe mir getreu, Yun, und sei meines Wohlwollens sicher.“

Da Yun den Kopf hob, war die Gestalt der Katze nicht mehr zu sehen, ebenso wie der Leichnam des Dämons nicht länger im Sand lag. Menschen kamen auf ihn zugelaufen, lachend und mit Blüten bekränzt, die ihn umarmten und den erschöpften jungen Krieger mit freundlichen Worten überschütteten.

Yun war der erste Magierkrieger, der das Geheimnis der Heiligen Höhle erfuhr und ihre Macht gebrauchte, um seine Feinde zu bekämpfen. Diese Technik der magischen Kraft wurde weitergegeben von Generation zu Generation auf den Inseln, die noch heute den Namen ihres ersten Helden tragen.

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